Woran krankt es in der deutschen Innenstadt? Ein Interview mit Roland Wölfel und Andreas Haderlein

Unsere Studie zu lokalen Marktplätzen untersuchte und bewertete die verschiedenen digitalen Initiativen, welche dem stationären Handel helfen und lokale Nachfrage binden sollen. Der stationäre Handel dient nicht nur dem Verkauf von Produkten und Dienstleistungen. Er zieht Fußgänger in die deutschen Innenstädte. Leere Einkaufsstraßen bedrohen nicht nur den Handel, sondern auch die Gastronomie oder die Immobilienwirtschaft. Bedroht sind aber auch die Attraktivität der Städte sowie die regionale Identität. Um einen vertieften Einblick in dieses Thema zu geben, haben wir Roland Wöfel, CIMA Beratung + Management und Geschäftsführer des CIMA Instituts für Regionalwirtschaft, und Andreas Haderlein, Leiter des Projekts cima.digital und Autor von Local Commerce, interviewt: Wie Städte und Innenstadthandel die digitale Transformation meistern. Cima digital konzentriert sich auf die kooperativen Online-Strategien für Städte, Regionen und Handel. Die beiden Experten diagnostizieren, was in Deutschlands verschwindenden Innenstädten wirklich vor sich geht, was dagegen getan werden kann.

Andreas Haderlein, Leiter des Projektbüros cima.digital
Andreas Haderlein

Leiter des Projektbüros cima.digital

Roland Wölfel, Geschäftsführer der CIMA Beratung & Management GmbH
Roland Wölfel

Geschäftsführer der CIMA Beratung & Management GmbH

Woran sind die deutschen Innenstädte erkrankt? Wird das Corona-Virus die Abwehrkräfte weiter schwächen?

Andreas Haderlein: Wollen wir mal nicht allzu pessimistisch sein. Immerhin hat der erste Lockdown in der deutschen Nachkriegsgeschichte viele inhabergeführte Geschäfte in Innenstädten dazu gebracht, einen großen Schritt in digitalisierte Prozesse zu wagen. Geschlossene Geschäfte und verwaiste Einkaufsstraßen haben deutlicher als zehn Jahre gebetsmühlenartige Beratung gemacht, dass die Online-Sichtbarkeit von lokal verfügbaren Waren und ein wie auch immer organisierter Lieferservice kein Nice-to-have ist, sondern mitunter der einzige Weg zum Kunden. Wer keinen eigenen Online-Shop hatte, der wickelte Bestellungen eben behelfsmäßig per E-Mail, WhatsApp, Facebook oder Instagram ab. Aber klar ist auch:Der Einzelhandel spielt im Innenstadtorchester nicht mehr die erste Geige. Die Vertriebshoheit des innerstädtischen Handels ist längst vorbei, aber noch immer reden wir über Einkaufsstädte. Dabei müssten sie eigentlich „Lebensstädte“ heißen.

Roland Wölfel: Richtig, denn Innenstädte leiden seit Jahren unter den Folgen, die der zuweilen äußerst einseitige Zuschnitt auf den Einzelhandel gebracht hat: Die Krankheit lautet: Schwache Nutzungsmischung. Die Trigger dieses Krankheitsbilds – um im Bild zu bleiben – sind Jahrzehnte alt. Sie verlaufen vom Bau der ersten Fußgängerzone über die sog. autogerechte Stadtentwicklung bis hin zur einseitigen Fokussierung auf die Innenstadtfunktion Handel. Man konnte es sich bei extrem hohen Erdgeschoßmieten leisten die Obergeschosse mitten in der City leer stehen zu lassen. Außerdem hat der Siegeszug von Grüner Wiese, Fachmarktlage und E-Commerce mehr als deutlich gemacht, dass die Stadt zwar den Handel, der Handel aber nicht mehr zwangsläufig die Stadt braucht. Mit Blick auf die Chancen des Internets müssen wir als Kommunalberater nun nicht nur verstärkt Umnutzungs- und neue Flächenkonzepte erarbeiten, sondern auch digitalen Leerstand vermeiden helfen.

Der Einzelhandel kann nicht „gerettet“ werden, sehr wohl aber mit Hilfe-zur-Selbsthilfe an der einen oder anderen Stelle auf ein neues Niveau der Internet-Kompetenz gehoben werden.

Haderlein: Und das heißt in erster Linie auch, dass Städte den online-lokalen Raum erobern müssen. Die Chancen liegen ja auf der Hand: Lokal konnotierte Suchanfragen – egal ob sie die beste Pizza der Stadt, die Öffnungszeiten der Bibliothek, die Abfahrtszeit der Bahn oder die Verfügbarkeit von Produkten im stationären Handel betreffen – steigen seit Jahren. Im cima.MONITOR, einer repräsentativen Konsumentenbefragung aus 2019 gaben bereits über 50 Prozent der Erwerbstätigen an, den Online-Warenverfügbarkeitscheck zu nutzen, wenn sie einen Einkauf vor Ort planen. Weitere knapp 20 Prozent werden dies künftig tun.

Jüngeren Zielgruppen und Großstadtbewohner innen bedeutet dieser digitale Service des stationären Handels sogar überdurchschnittlich viel. Kein Wunder, sind in Großstädten doch mehr Filialisten und großflächige Handelsunternehmen ansässig, die Services wie Click & Collect (Selbstabholung) bereits wie selbstverständlich als Brückenlösung zwischen On- und Offline anbieten.

Wölfel: Anders ausgedrückt, das Prüfen von Warenverfügbarkeit im lokalen Handel wird bald so selbstverständlich sein wie das Brötchenabholen am Sonntag. Und viele werden sicher erinnern, dass der sonntägliche Gang zum Bäcker vor fünfzehn, zwanzig Jahren keine Selbstverständlichkeit war.

Welche Initiativen für den lokalen Handel sehen Sie dafür als besonders hilfreich und nachhaltig an?

Haderlein: Zunächst muss festgehalten werden, dass wir keinen Mangel an Technologie haben, um die „digitale Aufenthaltsqualität“ von Standorten zu erhöhen oder lokale Kaufkraft über Online-Sichtbarkeitsmodelle, transaktionsbasierte Online-Marktplätze oder digitale Stadtgutscheinsysteme zu binden. Wir haben jedoch einen entscheidenden Mangel an Veränderungsmanager innen in den Städten, die insbesondere den inhabergeführten Handel auf seinem Weg hin zu mehr Digitalfitness begleiten. Diese „Kümmerer 2.0“ moderieren eben nicht die nächste Finanzierungsrunde der Weihnachtsbeleuchtung für die Fußgängerzone, debattieren nicht in aufgeheizter Stimmung die Höhe von Parkgebühren und bewerben auch keinen verkaufsoffenen Sonntag. Vielmehr müssen sie sich mit Online-Marketing und E-Commerce-Themen oder den technisch-konzeptionellen Feinheiten eines Multi-Vendor Online-Shops auskennen.

Klar ist, mit der dramatischen Lage seit Corona werden sicher bald finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, den lokalen Handel zu unterstützen. Dies sollte sich allerdings nicht im x-ten Pilotprojekt erschöpfen, sondern wir müssen viel mehr Städte und deren Innenstadthandel mit skalierbaren Konzepten und Unterstützungsleistungen erreichen.

Wölfel: Schulungen, Learning-by-Doing und Hilfe-zur-Selbsthilfe sind in gut moderierten Transformationsprozessen des Innenstadthandels maßgeblich, um die Akteure für neue Werbe- und Vertriebsansätze zu begeistern. Die „Online City Wuppertal“ hat dies als eines der ersten Pilotprojekte in diesem Umfeld deutlich gemacht. Hier wurde 2014 nicht nur eine Infrastruktur zur kooperativen Entfaltung der lokalen Akteure gelegt (Online-Marktplatz samt taggleicher Lieferung), sondern qua Weiterbildung und in einem intensiven Moderationsprozess deutlich gemacht, dass digitales Dachmarketing ein wichtiges Werkzeug im Baukasten von Wirtschaftsförderung, Citymanagement und Stadtmarketing sein wird. Heute gehen Städte wie Bochum oder Pfaffenhofen diesen Weg weiter. Städte also, die rein technisch auf ein White-Label-Modell setzen, als Initiative jedoch durch einen Kümmerer 2.0 bestens begleitet sind.

Haderlein: Allerdings sehen wir mittlerweile auch starke Tendenzen in Richtung von Lösungen, die ohne den schwierigen Überbau des Change Managements von städtischen Akteuren auskommen. Shöpping.at beispielsweise hat gerade bewiesen, dass man ohne Klammern um Städte oder Regionen ein Local-Commerce-Projekt mit immerhin über 1.000 Anbietern aus Österreich auf die Beine stellen kann. Regionale Online-Marktplätze wie KaufinBW wiederum basieren auf einem etablierten deutschen White-Label-Infrastrukturgeber, Betreiber der Plattform jedoch ist ein Verlag, der landesweit einzelne Händler für sein crossmediales Vermarktungskonzept gewinnt und eben keinen Anspruch auf die digitale Abbildung einzelner Städte erhebt.

Warum scheitern viele lokalen Initiativen bzw. erzeugen nur ein geringes Interesse bei Kunden und Käufern?

Haderlein: Ich würde verneinen, dass viele scheitern. Oftmals liegen Kategorienfehler in der Bewertung vor. Dass sog. Online-Schaufenster ohne Abbildung von Warenverfügbarkeiten wenig Relevanz besitzen, leuchtet sicher jedem ein, der sich als lokal interessierter Kunde im Netz bewegt. Jedes von Werbegemeinschaften oder Citymanagement betriebenes Online-Schaufenster muss sich deshalb die Frage gefallen lassen, was es besser kann als Google Maps.

Gescheitert sind vor allem die Ambitionen der größeren Anbieter: Simply Local, Locafox, eBay City, AllyouneedCity – all diese Initiativen sind wieder von der Bildfläche verschwunden oder haben – wie Locafox – ihr Geschäftsmodell angepasst. Die Gründe liegen auf der Hand: Man kann mit Local-Commmerce-Initiativen kein schnelles Geld verdienen und risikokapitalgetriebene Unternehmen sind dort fehl am Platz, wo es gilt regionale Wertschöpfung mit viel Geduld und Weitsicht auf ein digitales Fundament zu stellen. Der Infrastrukturanbieter Atalanda ist ohne großes PR-Getöse im Hintergrund gewachsen und stellt sein White-Label-Marktplatz mittlerweile rund 30 Städten in Deutschland, Verlagen oder sogar ganz Luxemburg zur Verfügung. Das Unternehmen aus Freilassing macht mittlerweile die Anbindung von rund 25 unterschiedlichen Warenwirtschaftssystemen möglich, kooperiert mit Großlieferanten, Marken und Verbundgruppen, um dem lokalen Absatzmittler Produktdaten zur Verfügung zu stellen.

Die Innenstadt wird vielfältiger, kleinteiliger und idealerweise auch wichtiger sozialer und nicht nur ökonomischer Interaktionsraum werden. Planungstechnisch werden Innenstädte sicher nicht mehr rein monofunktional auf den Einzelhandel ausgerichtet sein. Gastronomie, Kultur, Wohnen, Arbeiten, Bildung, Gesundheit und Leben gehören zum Ideal der Europäischen Stadt, dem wir hoffentlich bald nicht mehr nur hinterhertrauern, sondern nacheifern.

Auf der anderen Seite aber haben sich natürlich Städte und Werbegemeinschaften schon ordentlich die Finger verbrannt, wenn sie meinten, ein durch eine lokale Webagentur gebauter lokaler Online-Marktplatz auf Basis von herkömmlichen Shopsystemen reiche aus. Maintenance-Kosten laufen zuweilen aus dem Ruder, es fehlen tiefenintegrierte Funktionen, die Akquise von Händlern stockt und das Backend ist alles andere als auf die Möglichkeiten digital wenig versierter Teilnehmer ausgerichtet.

Gut gemanagte lokale oder regionale Online-Marktplätze sind eine strategische Investition von Standorten. Sie können ja nur organisch wachsen. Warenwirtschaften, wenn überhaupt vorhanden, wollen angebunden werden. Händler ohne Digitalerfahrung müssen überzeugt werden, auf der Produktebene statt nur mit Adressdaten sichtbar zu werden. Es braucht Schulungen zum rechtlichen Rahmen, zur Bildbearbeitung oder Backend-Nutzung des Marktplatzes. Gastronomen und Dienstleister müssen mit Funktionen integriert werden, die ein Multi Vendor Online-Shop von der Stange nicht bieten kann. Die Bewerbung von lokalen Online-Marktplätzen kann also erst dann erfolgen, wenn ganz viele Hausaufgaben erledigt wurden.

Die „Hausaufgabenbetreuung“ allerdings ist in vielen Initiativen nicht oder unterfinanziert. Und so wundern sich Händler, Landräte und Bürgermeister, dass schlechte Produktbilder, zehn ins Netz gestellte Ladenhüter oder 4 Tage Lieferzeit keinen lokalen Kunden vom Hocker hauen. Aus Mitleid werden diese nämlich auch online nicht einkaufen. Es braucht technische Exzellenz.

Wölfel: Wir haben schon in unserem Forschungsprojekt gemeinsam.online die Erfolgsfaktoren und Hürden digitaler City-Initiativen identifiziert. Die Bedeutung einer kompetenten Umsetzungsbegleitung haben wir ja bereits angesprochen. Und neben den E-Commerce bezogenen Indikatoren wie Konversionsrate, RoPo-Effekte, Umsatzzahlen oder Sortimentsbreite, sind es insbesondere die Herausforderungen bei der Erstellung von Produktdaten und der Kooperationswille der Marktplatzteilnehmer, die erfolgsentscheidend sind. Denn immerhin nutzen sie mit entsprechenden Kostenvorteilen gemeinsam eine Infrastruktur, die im Sinne des digitalen Dachmarketings bespielt werden muss. Mit einem Fingerschnipp kriegen Sie sicher keinen lokalen oder regionalen Online-Marktplatz in die Relevanz oder Nachhaltigkeit. Die Finanzierung der Anschub- und Sensibilisierungsphase durch Fördertöpfe ist sicherlich genauso wichtig wie die Wahl des passenden Betreibermodells.

Haderlein: Mit einer mittlerweile siebenjährigen Erfahrung bei der Umsetzung digitaler City- und Regional-Initiativen im Rücken würde ich sogar noch hinzufügen: Ohne Lebensmittelhändler, also ohne klassische Nahversorgungsfunktionen werden lokale Online-Marktplätze mittelfristig scheitern. Schnelldrehende Konsumgüter sind sozusagen das Nadelöhr durch das transaktionsbasierte Lösungen in Städten und Regionen müssen. Ob hier Direktvermarkter, Bioläden, Metzger oder Rewe- bzw. Edeka-Kaufleute am Start sind, ist erst einmal zweitrangig. Jedoch gilt: Je regionaler Produkte sind, desto höher die Relevanz des Marktplatzes.

Welche Kräfte müssen vor Ort zusammenwirken, damit sich der lokale Handel erfolgreich behaupten kann?

Wölfel: In der Moderation von Entscheidungsprozessen in kommunalen Zusammenhängen, insbesondere in jenen, die einen zentralen Akteur wie den Einzelhandel betreffen, haben wir als cima über 30 Jahre Erfahrung. Wir wissen, wie hoch das Kooperations- und Konfliktmanagement bei der Umsetzung von klassischen oder digitalen Maßnahmen des Stadtmarketings oder der Wirtschaftsförderung aufgehängt werden müssen. Von kleineren Arbeits- über Lenkungsgruppen bis hin zur Bürgerbeteiligung setzen wir stets auf Partizipation und Transparenz für möglichst viele Akteure. Dazu gehören im städtischen Umfeld zweifelsohne die Entscheidungsträger aus Politik, Stabsstellen, HDE- und Kammer-Vertreter, regionale Banken, Medien, Immobilienbesitzer und die Vertreter der ortsansässigen Werbegemeinschaften oder des Filialhandels. Auch Stadtwerke sind relevante Teilnehmer an Runden Tischen. Oft sind wir der direkte Sparringspartner von Stadtmarketing und Citymanagement oder übernehmen gar selbst mit unseren Projekt- und Quartiersmanagern Aufgaben dieser Organisationen.

Haderlein: Neben der Ebene der institutionellen Partner und der Akteursebene der Einzelhändler kommen in letzter Zeit immer häufiger auch Stakeholder wie Hochschulen oder lokale Logistikunternehmen in das jeweilige Netzwerk unserer Initiativen. Auch Kundenbeiräte forcieren wir, wo es nur geht.

Braucht es landes- oder bundesweite Initiativen zur Rettung des Einzelhandels?

Haderlein: Der Einzelhandel kann nicht „gerettet“ werden, sehr wohl aber mit Hilfe-zur-Selbsthilfe an der einen oder anderen Stelle auf ein neues Niveau der Internet-Kompetenz gehoben werden. Inhabergeführte Geschäfte, die beispielsweise mit der Präsenz auf einem kooperativ angelegten lokalen Online-Marktplatz in Sachen E-Commerce das Laufen gelernt haben, tun sich mit dieser Erfahrung leichter bei der Einrichtung eines eigenen Online-Shops oder mit dem Gang auf die reichweitenstarken Plattformen Amazon oder eBay. Sie wissen dann aber auch, was sie sich preis-, personal- und sortimentspolitisch antun und springen nicht ins kalte Wasser.

Wir sehen mittlerweile auch starke Tendenzen in Richtung von Lösungen, die ohne den schwierigen Überbau des Change Managements von städtischen Akteuren auskommen.

Eine der wichtigsten „Rettungsaktionen“ der letzten Jahre war jedoch zweifelsohne die Einführung des Ausbildungsberufs Kaufmann/frau im E-Commerce – ein Vierteljahrhundert nach Erfindung von Amazon zwar reichlich spät, aber immerhin. Denn selbst wenn Betriebe in den letzten zehn Jahren das nötige Kleingeld hatten, in Digitalisierungsprozesse zu investieren, fehlte ihnen mitunter qualifiziertes, bezahlbares Personal, um Projekte auch wirklich umzusetzen.

Wölfel: Es ist ja nicht so, dass erst die Pandemie die Idee hat aufkommen lassen, den Einzelhandel in seiner ganzen Breite bis hinunter zum kleinsten Betrieb mit nationalen Maßnahmen zu unterstützen. Ich erinnere nur an die Dialogplattform Einzelhandel des Bundeswirtschaftsministeriums und die Allianz für Innenstädte von HDE und DStGB, die wir unterstützen. Diese Initiativen werden aktuell wieder reaktiviert und Wirtschaftsminister Altmaier versammelt relevante Akteure am Runden Tisch.

Klar ist, mit der dramatischen Lage seit Corona werden sicher bald finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, den lokalen Handel zu unterstützen. Dies sollte sich allerdings nicht im x-ten Pilotprojekt erschöpfen, sondern wir müssen viel mehr Städte und deren Innenstadthandel mit skalierbaren Konzepten und Unterstützungsleistungen erreichen. Es gibt viele, bereits in der Praxis bewährte Instrumente des Baurechts und der Städtebauförderung, die es nur konsequent anzuwenden gilt. Hierzu bedarf es lokaler anstatt noch mehr bundesweiter Initiativen. Die cima bringt sich darüber hinaus stark in Gremien und Verbänden wie der Bundesvereinigung City- und Stadtmarketing Deutschland (bcsd e.V.) oder in der urbanicom ein, die gemeinsam mit weiteren Verbänden aus dem Umfeld Stadtentwicklung, Städtebau und Einzelhandel ein Positionspapier veröffentlicht hat, das sehr konkrete Maßnahmen zur Bewältigung des Strukturwandels in Stadt und Handel einfordert.

Was halten Sie von den Initiativen der großen Online-Player wie Amazon, eBay, Zalando, Google & Co.?

Haderlein: Amazon und Google machen derzeit das, was sie schon immer getan haben. Sie nutzen die Gunst der Stunde, sich als Retter des Einzelhandels zu stilisieren. Auch eBay tut dies natürlich nicht ohne Eigeninteresse. Und der Handelsverband Deutschland ist froh, mit den Internetriesen neue potente Mitglieder gewonnen zu haben. Interessanterweise ist auch deren Ansatz, künftige Business-Kunden über Schulungen und niederschwellige Einstiegsmöglichkeiten zu gewinnen – sei es ein Amazon-Marktplatzhändler, der mit dem Wissensportal Quickstart Online den Weg auf den Amazon Marketplace findet, oder ein Google-Ads-Nutzer aus dem Einzelhandel, der erst mit der Google-HDE-Initiative ZukunftHandel mitbekommen hat, dass es Inventaranzeigen im Suchmaschinen- und Maps-Umfeld von Google gibt.

Schon in meinem Buch „Local Commerce“ von 2018 habe ich den vertrieblichen PR-Ansatz der großen Internetkonzerne mit „Schulungen machen Schule“ beschrieben. Denn auch in unseren Beratungsprozessen setzen wir seit jeher auf Weiterbildung als wichtigste Säule in der Umsetzung von Online-Sichtbarkeitsmodellen.

Zalandos Ansatz des „Connected Commerce“ wiederum erscheint unter einem anderen Licht: Die ANWR GROUP schloss bereits 2017 als eine der ersten Verbundgruppen einen Partnervertrag mit Zalando, um das hauseigene Digitalprojekt und Marktplatzmodell schuhe.de an die Zalando-Plattform anzuschließen. Die Vernetzung des stationären Fachhandels, insbesondere aber die Erhöhung seiner digitalen Reichweite findet also nur mit und nicht ohne die Online-Pure-Player statt.

Wie sehen die deutschen Innenstädte in 5-10 Jahren aus?

Wölfel: Sicherlich nicht viel anders als heute, wenn sie denn die Kurve kriegen. Es wird allerdings auch Städte geben, die in Tradingdown-Abwärtsspiralen gefangen bleiben. Ich denke hier insbesondere an den Ruhrpott. Doch dort, wo der Strukturwandel im Einzelhandel zwar Schneisen geschlagen hat, aber kluge und umsetzungsstarke Stadtentwickler innen am Werk sind, wird es Umnutzungen geben. Die eine oder andere Bibliothek wird wieder innerstädtisch als „Dritter Ort“ etabliert.

Die Innenstadt wird vielfältiger, kleinteiliger und idealerweise auch wichtiger sozialer und nicht nur ökonomischer Interaktionsraum werden. Planungstechnisch werden Innenstädte sicher nicht mehr rein monofunktional auf den Einzelhandel ausgerichtet sein. Gastronomie, Kultur, Wohnen, Arbeiten, Bildung, Gesundheit und Leben gehören zum Ideal der Europäischen Stadt, dem wir hoffentlich bald nicht mehr nur hinterhertrauern, sondern nacheifern. Selbst eine Renaissance der Handwerkerhöfe und Innovationszentren in Innenstadtlagen zeichnet sich ab.

Haderlein: … und wir werden bis dahin hoffentlich die Werkzeuge beherrschen, um den online-lokalen Raum adäquat zu bespielen – mit Infrastrukturen, die im Hoheitsgebiet der städtischen Akteure liegen.

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Über die cima

Die CIMA Beratung + Management GmbH ist ein interdisziplinäres Team von Experten mit langjähriger Beratungserfahrung im gewerblichen, kommunalen und regionalen Marketing mit Sitz in München, Stuttgart, Forchheim, Frankfurt am Main, Köln, Hannover, Leipzig, Lübeck und Ried (A).

Die cima gehört zu den renommiertesten Beratungsgesellschaften für Einzelhandels- und Standortentwicklung sowie Marketing im öffentlichen Sektor in Deutschland und Österreich.

Ihre Stärken sind Kommunikation und Kooperation an der Schnittstelle zwischen öffentlicher Hand, privater Wirtschaft und den aktiven Teilen der Stadtgesellschaft. Als Koordinator von öffentlichen und privaten Interessen ist die cima bundesweit ein methodensicherer und kooperativer Partner, der gemeinsam mit den Akteuren in den Kommunen Problemlösungen erarbeitet und ihnen Wissen und Instrumente vermittelt.

Über die cima.digital

Das Projektbüro cima.digital der CIMA Beratung + Management GmbH richtet seinen Fokus auf kooperative Online-Strategien für Städte, Regionen und Handel. Dabei stehen sowohl technisch-konzeptionelle bzw. infrastrukturelle Fragestellungen wie auch Belange des Veränderungsmanagements und der Qualifizierung von Akteuren aus Kommunen, Stadtmarketing- bzw. Citymanagement-Organisationen, Gewerbe und Wirtschaftsförderungen im Vordergrund.

Darüber hinaus versteht sich cima.digital als „Moderator des Wandels“ im Rahmen von Beteiligungsprozessen der Stadtgesellschaft oder Ideenschmieden für Kunden, Bürger und nicht gewerblich orientierte Institutionen.